Bedrohung eint

Europaflagge

Aus der Europäischen Kohle- und Stahl-Gemeinschaft wurde die EU

Zwei zerstörerische Weltkriege prägten die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und legten Europa und andere Teile der Welt in Schutt und Asche. Sieben Jahre nach Kriegsende, 1952, begründeten Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten dann das entscheidende Fundament für einen europäischen Neuanfang, indem sie die Europäische Kohle- und Stahl-Gemeinschaft gründeten. Aus dieser entstand 1993 im Zuge des Maastrichter Vertrags die Europäische Union, die heute 27 Länder umfasst und global als das erfolgreichste Beispiel für regionale Integration gilt: EU-Bürger:innen können ohne Visum durch Nachbarländer reisen, dort arbeiten oder leben, Staaten profitieren von der engen wirtschaftlichen Vernetzung durch den Binnenmarkt und erleben zahlreiche weitere Vorteile.

Kritik am politischen Großprojekt

Wäre es bei all diesen Vorteilen also nicht abwegig, die EU abzulehnen und wieder zu vollsouverän agierenden Nationalstaaten zurückkehren zu wollen? Viele betrachten dies in der Tat als absurd, andere wünschen sich allerdings auch genau das: die Abschaffung der EU. Seit einigen Jahren schon wird die Kritik gegenüber der supranationalen Organisation immer größer: Bürger:innen bemängeln ein Demokratiedefizit und definieren sich eher über ihre Staatszugehörigkeit als sich als EU-Bürger:in zu verstehen. Auch kritisieren viele, dass es sich bei der EU um ein Projekt handelt, das allein von Eliten geführt wird und die Interessen der Bürger:innen unzureichend berücksichtigt.

In den kritischen Reihen teilen sich die Lager klar auf: Sozialdemokratische, grüne, linkere Parteien sowie viele Flügel der politischen Mitte befürworten das politische Großprojekt, während konservative und rechte Parteien eine euroskeptische bzw. ablehnende Haltung einnehmen.

GovLab-Projekt zu Zustimmungswerten gegenüber EU

Als beispiellose supranationale Institution ist die EU ständiger Forschungsgegenstand der Politikwissenschaft. Auch im Humboldt Governance Lab der Humboldt-Universität zu Berlin wird die Organisation regelmäßig untersucht. So haben Prof. Dr. Heike Klüver, Leiterin des HGL und Dozentin an der HU, und Dr. Asli Unan von der Universität Amsterdam untersucht, wie die Einstellungen von EU-Bürger:innen zur EU durch den russischen Angriffskrieg beeinflusst worden sind.

Die Wissenschaftlerinnen griffen für ihr Forschungsprojekt auf Daten des Eurobarometers zurück, die zwischen Februar und April 2022 bei über 26 000 EU-Bürger:innen (>15J., repräsentativ) erhoben wurden. Durch den großen Umfang sind die Forscherinnen anders als Kolleg:innen, die nur das Stimmungsbild an Russland angrenzender Länder erfassen konnten, in der Lage den Effekt des russischen Angriffskriegs auf die Meinung von EU-Bürger:innen aller Mitgliedsstaaten abzubilden.

Mehr Unterstützung für EU

Was sind nun die Ergebnisse der Studie? Sie zeigen, dass der Anteil von EU-Bürger:innen, die die EU unterstützen, seit der russischen Invasion gewachsen ist. Im Durchschnitt bewirkte der russische Angriff einen Anstieg von rund 4 Prozent, der sich in den Wochen nach der Invasion fortsetzte. Spannend ist, dass sich die Befürwortung der EU nicht nur in den Staaten vergrößert hat, die direkt an Russland angrenzen und somit am ehesten gefährdet sind, Russlands nächstes Angriffsziel zu werden. Stattdessen legt die Untersuchung offen, dass die Unterstützung gegenüber der EU über alle EU-Staaten hinweg seit Kriegsbeginn gewachsen ist.

„Rally around the flag“-Effekt: Stärkere Einigkeit durch regionale Konflikte

Die Studie könnte somit als Beleg für den „rally around the flag“-Effekt betrachtet werden, bei dem regionale Konflikte eine stärkere Einigkeit innerhalb supranationaler Organisationen bewirken können. Dies belegen auch Theorien aus der Sozialidentitätsforschung, die besagen, dass externe Bedrohungen die Identitätsbildung einer Gruppe fördern (Tajfel and Turner, 1979; Hogg, 2016). Neben einer stärkeren Identifizierung als Europäer:in scheinen mehr Menschen die EU nun auch als wichtigen Sicherheitsakteur in konfliktreichen Zeiten zu betrachten.

Kritik aus den linken Reihen

Während die generelle Zustimmung einerseits gestiegen ist, gibt es seit dem russisch-ukrainischen Krieg anderseits vermehrt kritische Stimmen linksorientierter Bürger:innen, die eigentlich als klassische Unterstützer:innen der EU gelten.

So führen beide Entwicklungen dazu, dass sich die ideologische Kluft zwischen linken und rechten Europäer:innen etwas reduziert hat. Grundsätzlich stellen die Forscherinnen fest, dass die Meinung gegenüber der EU stark abhängig von politischer Ideologie und dem Alter ist, wobei die jüngsten Menschen die meiste Zustimmung zeigen.

Öffentliche Meinung entscheidet über Fortbestehen der EU

Da die öffentliche Meinung entscheidend für das Weiterbestehen supranationaler Organisationen wie die EU ist, ist es besonders wichtig die Einstellungen von EU-Bürger:innen regelmäßig zu untersuchen. Es scheint, als habe ein Krieg auf europäischem Boden für mehr Einigkeit unter der europäischen Bevölkerung gesorgt. Menschen haben erkannt, dass sie in Sachen Sicherheit stark von der EU profitieren und können sich eventuell mehr mit ihrem Status als EU-Bürger:in identifizieren.

Lesen Sie die gesamte Studie unter: Europeans’ attitudes toward the EU following Russia’s invasion of Ukraine | Political Science Research and Methods | Cambridge Core
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